Der gelbe Gladiator

Fall Nr. 2 der „Kärntner Mordsbullen“

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Klappentext

Auch Kriminalbeamte kämpfen mit den Tücken der Liebe und mehr noch mit jenen der Bürokratie.  Chefinspektor Falk kommt ein neuer Fall nicht ungelegen. Beim Entrümpeln eines Dachbodens finden Arbeiter ein Schmucketui. Drinnen liegt ein mumifizierter weiblicher Finger. Prof. Norobosco, führender Forensiker in Klagenfurt, meint, dass er vor fünf bis zehn Jahren abhanden gekommen sein müsse. Abhanden. Der Professor mag solche Wortspiele.
Falk macht sich auf die Suche nach der dazugehörigen Frau. Das erweist sich als schwierig. Dann wird im selben Haus ein Doppelmord begangen. Der Finger tritt in den Hintergrund, doch Falk ist überzeugt davon, dass zwischen beiden Fällen ein Zusammenhang besteht, der ihn auf die richtige Spur führen wird.
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Rezension

Format: Kindle Edition

Dieser Krimi hat mir ausgezeichnet gefallen und zwar nicht nur weil er in Österreich (mit Ausnahme der Rückblicke) spielt, sondern auch wegen des außergewöhnlichen Themas und der ausgezeichneten Personenbeschreibungen. Einfach lesenswert!
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Leseprobe

PROLOG

Das Geräusch des Reißverschlusses weckte ihn. Er öffnete die Augen und registrierte in ein und demselben Moment pochende Kopfschmerzen, einen pelzigen, metallischen Geschmack auf der Zunge und die Silhouette einer Gestalt, die sich im Zelteingang abzeichnete. Er wollte mit der rechten Hand nach der Waffe greifen und merkte, dass ihm seine Muskeln den Gehorsam verweigerten. Unter Aufbietung aller Willenskraft schob er den fast tauben Arm zur Seite und – fand nichts. Die Gestalt packte unterdessen seine Füße und zog ihn aus dem Zelt, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Draußen erwarteten ihn weitere Gestalten, in lange Gewänder gehüllt, mit vors Gesicht gezogenen Tüchern. Zwei davon griffen nach seinen Armen, der Mann, der ihn aus dem Zelt gezerrt hatte, riss den Schlafsack von seinem Körper. Er war noch immer wie gelähmt und fühlte kaum die Fesseln, mit denen sie schnell und routiniert seine Hände und Füße banden.
Pias Stimme drang schlaftrunken in die mondhelle Nacht: „Liebling, was ist denn los?“
Vergebens öffnete er den Mund, um sie zu warnen. Mehr als ein heiseres Röcheln brachte er nicht zustande. Es hätte auch nichts geändert.
Sie schrie auf, weil sie ebenso unsanft wie er ins Freie befördert und aus dem Schlafsack geholt wurde. Es waren ihre Flitterwochen, sie war nackt. Wie durch Watte vernahm er anerkennendes Gemurmel und Schnalzen aus rauen Gaumen. Wo zum Teufel steckten ihre Begleiter, die die Nachtwache übernommen hatten? Als Antwort startete im Hintergrund der Motor eines großen Geländewagens, 20-Zoll-Reifen knirschten über Sand und Geröll, langsam entfernten sich die Geräusche. Er lag auf dem Boden und kämpfte vergeblich gegen Lähmungserscheinungen und Sehstörungen an, gegen die Drogen, die ihm die eigenen Leute ins Abendessen gemischt haben mussten. Nur wenige Meter entfernt bildeten die fremden Männer einen engen, undurchdringlichen Ring um seine Frau, schwach beleuchtet vom gleißenden Funkeln der Sterne und dem blassen Schein des Mondes. Die anfangs hoch aufgerichtete Gruppe sank rasch tiefer zur Erde, tiefer in die Schatten der Felsen. Er ahnte mehr, was vorging, als er mit seinen getrübten Blicken wahrnahm, doch Pias Schreie drangen wie spitze, glühende Eisenstäbe in sein halb waches Bewusstsein. Man hatte sie in eine Falle gelockt und er zweifelte nicht daran, dass der Verrat von langer Hand vorbereitet worden war. Irgendwann verstummten ihre Schreie. Er starrte in den langsam verblassenden Sternenhimmel. Die Kälte, die durch seine Glieder zog, spürte er nicht.

1___
Zwei Dutzend Schwanzmeisen zwitscherten, flatterten und hüpften im blühenden Flieder so übermütig von Ast zu Ast, als würde jeder der winzigen Federknäuel im nächsten Moment bersten vor Freude und Lebenslust. Auch Chefinspektor Falk fühlte sich beschwingt. In Shorts und Leibchen, Slippers an den Füßen, eine Tasse Kaffee in der Hand, trat er auf die Terrasse und sog die kühlen Düfte des frühsommerlichen Gartens ein. Die Morgensonne und ein leichter Wind spielten gemeinsam mit dem frischen Blattwerk der Sträucher und Bäume, zahllose hoch aufragende Tulpen, gelbe, violette, rote, hielten ihre Blütenköpfe noch fest geschlossen. Der blassblaue Himmel versprach einen makellosen Tag, die Meteorologen Ausnahme-Temperaturen bis 30 Grad.
Monika, die normalerweise länger schlief, kam barfuß aus der Küche. Sie trug nur ein durchscheinendes, kurzes Nachthemd, ihr rötliches Haar stand wirr in alle Richtungen. Mit ihrem verschlafenen Gesicht erschien sie ihm als Mischwesen zwischen müdem Kobold und erotischem Engel.
„Morgen“, sagte er.
Statt einer Antwort lehnte sie sich an ihn und gähnte herzhaft, ohne die Hand vorzuhalten. Ein klarer Punkt für den Kobold.
Nun trottete auch Sam aus der Küche, bellte einmal zur Begrüßung, setzte sich an den Rand der Terrasse und beobachtete eine Amsel, die im hinteren Teil des Gartens nach Würmern pickte.
„Warum bist du schon auf?“, erkundigte sich Falk.
„Hast du es vergessen, ich muss zum Seminar.“
„Die Effizienzsteigerung in der Schulverwaltung oder sowas, nicht?“
„Oder sowas trifft es genau“, erwiderte sie freudlos. „Wenn du mich fragst, steigern die immer nur eines: ihre verdammte Bürokratie.“
„Aber dich fragt niemand“, bemerkte der Chefinspektor trocken.
„Nein“, gab sie zu.“ Wie spät ist es?“
Er hielt ihr die Uhr vors Gesicht.
„Meine Güte!“, stieß sie hervor und lief ins Haus zurück.
Falk zwinkerte Sam zu, der interessiert näherkam und die Schnauze auffordernd gegen sein Knie stieß.
„Butterbrot?“
Sam wedelte heftige Zustimmung. Langsam folgten sie Monika ins Haus. Falk strich zwei Butterbrote, schnitt sie in Streifen und teilte das bescheidene Mahl mit dem schwarzen Spaniel. Monika, bereits angekleidet, die Haarbürste in der Hand, wirbelte herein und verschlang ein halbes Brot, während sie ihre Füße mit ruckartigen Bewegungen in die Pumps zwängte.
„Wie spät?“, fragte sie mit vollem Mund.
„Zehn nach sieben.“
„Jetzt aber!“, rief sie und raffte die Handtasche an sich. Sie beugte sich zu ihm, küsste ihn und sah ihn gleich darauf ein wenig verlegen an, weil die kleine Geste zwischen ihnen längst nicht mehr so selbstverständlich erfolgte wie noch vor zwei, drei Jahren.
„Bis später!“
In raschem Stakkato klapperten ihre Absätze zur Tür hinaus und über die Stufen zur Garage. Sie hörten den Motor, das Quietschen des automatischen Gartentors und gleich darauf das ihrer Reifen. Sam stupste wieder gegen Falks Knie und der bestrich noch eine Scheibe Brot.

2___
Sogar in die nüchternen Büros des Landeskriminalamts war der Frühling eingezogen. Auf den Schreibtischen standen kleine, weiß glasierte Tonschalen mit violetten Stiefmütterchen. Als Falk sein Arbeitszimmer betrat, legte Inspektor Schilling gerade eine Akte auf seine Schreibunterlage. Er deutete auf die Blumen.
„Die stammen von Ihnen, nicht wahr?“
Sie lächelte ihn an.
„Sie sind der erste, der es bemerkt.“
Er lächelte zurück und warf einen Blick auf die Akte.
„Was Dringendes?“
„Die Schüler mit der Drogenplantage auf der Dachterrasse. Ein besorgter Vater hat den Oberst angerufen und der meint nun, dass die Kollegen von der Sucht damit nicht alleine fertig werden. Und weil momentan ohnehin nicht viel los ist und der Vater kein ganz unbekannter Anwalt …“
Der Chefinspektor verdrehte die Augen.
„Ein Königreich für einen Mord!“
Er fing ihren diskreten, missbilligenden Blick auf.
„Tut mir leid. Haben Sie nie Hasch geraucht?“
„Einmal mit dreizehn. Mir war hundeelend. Und Sie?“
„Auf der Polizeischule. Ein Kollege dachte, wir müssten unser Bewusstsein erweitern.“
„Hat es geklappt?“
„Sie hätten uns fast erwischt, das wirkte so ernüchternd, dass ich bis heute nicht weiß, ob etwas dran ist.“
Schilling lachte.
„Vielleicht kann Ihnen der Oberst helfen. Er wollte Sie ohnedies sehen.“
„Wegen der Nachwuchsgärtner?“
„Ich weiß nicht. Vor ihm lag ein dickes Kuvert. Der Absender sah ganz nach Ministerium aus.“
Falk fühlte seine gute Laune schwinden. Dicke Kuverts vom Ministerium bedeuteten meist einen Mehraufwand, der in aller Regel völlig nutz- und sinnlos war. Kein Mensch vermag zu sagen, was in den Köpfen österreichischer Ministerialbeamter vor sich geht – was aus diesen Köpfen nach außen dringt, lässt im Allgemeinen keine vernünftigen Rückschlüsse und wenig Hoffnung zu.
Er öffnete die Tür für Inspektor Schilling. Zarter Maiglöckchenduft stieg ihm in die Nase, als sie an ihm vorüberglitt. Für den Bruchteil einer Sekunde überkam ihn das heftige Verlangen, seine Lippen auf die feinen Härchen in ihrem Nacken zu drücken. Das traf ihn so überraschend, dass er sich die Stirn am Türblatt stieß, weil er unwillkürlich den Kopf schüttelte wie ein Hund, der mit Wasser bespritzt wird. Er mochte Schilling, ihm gefiel ihre stille Freundlichkeit, doch nie zuvor hatte er im Zusammenhang mit ihr im Entferntesten an einen Kuss gedacht. Sie merkte nichts von dem Blitz, der ihn gerade gestreift hatte. Er folgte mit seinen Blicken ihrem geschmeidigen Gang, der zierlichen, sehr aufrechten Figur, und fragte sich, wieso er sie jetzt plötzlich, nach Jahren der Zusammenarbeit, erstmals nicht als Kollegin, sondern als attraktive, anziehende Frau wahrnahm. Die leidige Midlife-Crisis? Zweiter Frühling zum ersten, zum zweiten, zum dritten?
Noch immer leicht benommen klopfte er an Oberst Prettners Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil Prettner fast pausenlos telefonierte und dabei alles ausblendete, was um ihn herum geschah.
Wider Erwarten hatte der Oberst beide Hände frei. Sie lagen übereinander auf dem Kuvert, als wolle er es beschwören. Zufrieden sah er dem Chefinspektor entgegen. Ein schlechtes Vorzeichen. Prettner bestätigte Falks böse Vorahnung, indem er in leutseligster Weise sagte: „Da sind Sie ja, Chefinspektor. Nehmen Sie Platz.“
Falk setzte sich. Der Leiter des LKA schob das ominöse Kuvert über den Tisch.
„In Wien schätzt man unsere Arbeit. Ich wurde von höchster Stelle gefragt, ob wir bereit sind, ein Pilotprojekt zur internen Organisationsoptimierung durchzuführen, das später als Muster für andere Dienststellen zur Anwendung kommen soll.“
„Welche Ehre“, bemerkte Falk.
Der Oberst kniff kurz die Augen zusammen, als ob er einen Funken unangebrachter Ironie witterte, doch Falks harmlose Miene zerstreute seinen Verdacht.
„Ja, nicht wahr? Ich habe natürlich sofort zugesagt. Und Sie sind der Mann, der für eine derartige Aufgabe geeignet ist.“
„Worin besteht die Aufgabe genau?“
Nun lächelte Prettner breit und großzügig, was seinen runden, kahlen Kopf in einen hellroten Smiley mit buschigen Augenbrauen verwandelte.
„Finden Sie alles in dem Umschlag. Nur zu.“
Der Chefinspektor öffnete die Lasche und zog einen Stapel eng bedruckten Papiers hervor. Er blätterte durch Anweisungen und eine Reihe von Tabellen, die darauf warteten, ausgefüllt zu werden. Er hielt es für ausgeschlossen, dass der Oberst auch nur einen Blick darauf geworfen hatte.
„Sieht ziemlich kompliziert aus.“
Sein Vorgesetzter ließ den Einwand nicht gelten.
„Wenn man die Abläufe damit vereinfachen kann …“
„Welche Abläufe?“, erkundigte sich Falk.
„Ach, Sie wissen schon. Diese täglichen Abläufe eben. Ständig geht dabei Zeit verloren, das passt nicht zu einer modernen Verwaltung.“
Prettners Handy imitierte den Weckruf eines Hahns. Er warf einen Blick auf das Display, sein Rücken straffte sich.
„Der Landeshauptmann. Sie wissen schon, was zu tun ist, Chefinspektor.“
Falk nahm die Papiere und zog sich zurück, während der Oberst den Anruf mit jener respektvoll kumpelhaften Anbiederung entgegennahm, die er in seiner 30-jährigen Karriere zur höchsten Meisterschaft entwickelt hatte.

3___
Als Falk in sein eigenes Büro zurückkehrte, saß auch Lacher an seinem Platz und telefonierte ebenfalls. Die beiden Chefinspektoren teilten sich seit dem Beginn eines Umbaus, der scheinbar nie zu Ende kommen wollte, den Raum Tisch an Tisch. Falk registrierte die zu- und abnehmenden dunklen Ringe unter den Augen seines Freundes so automatisch wie man das Wetter registriert, wenn man morgens aus dem Fenster blickt. Der fesche, stets schilehrerartig gebräunte Lacher wirkte müde und ausgebrannt. Er kritzelte etwas auf einen Zettel und legte auf.
„Seltsame Sache“, sagte er anstelle eines Grußes. „Bei einer Hausrenovierung haben Arbeiter im Dachboden eine Schmuckschatulle gefunden und geöffnet. Was meinst du, was drinnen lag?“
„Kein Schmuck“, erwiderte Falk. „Den hätten sie nicht gemeldet.“
„Ein menschlicher Finger. Sieht irgendwie mumifiziert aus, behauptet der Kollege von der Streife. Ist aber eindeutig ein Finger. Ich nehme Schilling mit und fahre los.“
„Das übernehme ich selbst“, entschied Falk. „Du machst dich mit dem da vertraut.“
Er warf das leuchtend orange Kuvert mit dem Stempel des Ministeriums auf den Tisch seines Stellvertreters. Der sah es an, als ob es sich um eine Briefbombe handelte.
„Was wollen die wieder von uns?“
„Nicht der Rede wert, ein bisschen Papierkram. Offenbar ein akuter Virus in Wien, Monika geht’s auch nicht besser. Du kannst dir Sorcek zu Hilfe holen.“
Wie zuvor Falk, zog nun Lacher den Papierstapel hervor und durchblätterte ihn lustlos.
„Da umfasst die Einleitung schon neun Seiten, klein gedruckt.“
„Ja …“, bemerkte der Chefinspektor vage und machte sich mit dem Adresszettel auf den Weg zur Tür.
„Wollen wir losen?“, schlug sein Stellvertreter vor und ließ für Momente der Hoffnung die blitzblauen Augen erwartungsvoll funkeln wie abends in den Bars.
„Schon passiert“, gab Falk über die Schulter zurück. „Du hast den Kürzeren gezogen.“
Er fand Schilling hinter ihrem Monitor.
„Gehen wir“, forderte er sie auf. „Man hat einen Finger gefunden.“

4___
Er lag wie zu Eis erstarrt auf dem steinigen Boden. Wegen der Kälte, wegen der Drogen, vor allem aber wegen Pias Schreien und ihres Verstummens, das fast noch schrecklicher war. Er bekam nicht mit, was die Männer im Hintergrund taten, wie sie ihr eigenes Fahrzeug heran holten, das Lager plünderten und den zweiten Rover beluden. Er überlegte, was mit Pia geschehen sein mochte und ob sie ihn einfach liegen lassen würden – lebendig oder tot – und dass ihn der Unterschied eigentlich nicht besonders interessierte.
Doch sie ließen ihn nicht liegen. Zwei hoben ihn auf, einer löste seine Fußfesseln und zog ihm seine Hose an. Er wollte ihn treten, aber seine Beine versagten ihm den Dienst. Sie lösten auch die Handfesseln und fädelten seine Hände durch die Ärmel. Wieder versuchte er zuzuschlagen, ihnen wenigstens ein bisschen wehzutun für das, was sie Pia getan hatten, doch die Bewegung geriet so schwach, dass die Fremden nicht einmal seine Absicht erkannten. Sie trugen ihn zum Pickup und warfen ihn auf die Ladefläche. Dort wurde er fest geschnallt wie ein Paket, dann begann die Fahrt.
Die Erinnerung an die folgenden Stunden schmolz in seinem Gedächtnis auf wenige unauslöschliche Eindrücke zusammen: grenzenlose Verzweiflung, rasende Kopfschmerzen, unerträglichen Durst. Er brachte keinen klaren Gedanken zustande. Zwei Fragen hämmerten gegen seine Schläfen wie ein unermüdlicher Presslufthammer: Lebt Pia? Wo ist sie?
Sie fuhren durch die unwirtliche, rötlich schimmernde, sonnenverbrannte Steinwüste, auf Wegen, die sich kaum abhoben von der geröllübersäten Umgebung. Wie er diese karge, ausgedörrte Landschaft geliebt hatte, die sich in so erhabener Gleichgültigkeit darbot. Nun hasste er sie und den Menschenschlag, den sie ausspuckte.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie durch einen engen Felseinschnitt in einen kleinen Talkessel gelangten, der an einer Seite unter überhängendem Stein Schatten und Sichtschutz nach oben bot.
Zwei der Männer schnallten ihn los und lehnten ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Beide Wägen waren leer und von Pia keine Spur. Einer drückte ihm ein Fladenbrot und eine Plastikflasche mit Wasser in die Hände. Er trank und versuchte zu sprechen.
„Wo ist meine Frau?“
Der Mann, noch jung unter der vom Wüstenklima schon fein geknitterten, dunklen Haut, schaute ihn verständnislos an.
Er wiederholte die Frage auf Englisch.
„Wife“, sagte der andere und grinste.
„Wo ist sie?“, schrie er und machte einen heftigen Schritt nach vorne. Im selben Moment fühlte er eine Messerspitze, die sich mühelos durch die Jacke in seine Seite bohrte und dort vibrierend verharrte. Die anderen Entführer wurden aufmerksam und kamen herbei. Sie wechselten einige Worte, die er nicht verstand. Einer hob lachend seine Faust und deutete auf seinen kleinen Finger, an dem ein neuer Goldring funkelte. Ein anderer trat vor ihn hin und hielt ihm etwas knapp vor seine Augen. Ein dünnes Würstchen, mit dem er zunächst nichts anzufangen wusste. Der Mann drehte es langsam. Da erkannte er, worum es sich handelte. Eine Klammer aus blankem Entsetzen erfasste sein Herz, er schwankte und wäre umgefallen, wenn ihn nicht einer seiner Peiniger aufrecht gehalten hätte. Der Mann packte das Würstchen in ein Behältnis und schob es dem Gefangenen unter dem Gelächter seiner Kumpane in die Brusttasche.

5___
Falk und Schilling hielten vor einem eingerüsteten Gründerzeitgebäude in der Burggasse. Das spinnwebartige Stahlgerüst eines Baukrans ragte empor, unmittelbar daneben stand ein Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht. Ein Grüppchen Menschen blickte nach oben. Falk stach ein dunkelbraun gebrannter Mann ins Auge, dessen Haare so unverschämt zitronengelb leuchteten, wie es die Natur – außer bei Zitronen – nie zustande bringt. Die Beamten betraten das Gebäude. Einen Lift gab es nicht. Das Treppenhaus wand sich in einer ovalen Spirale von Etage zu Etage, durch eine Tür im vierten Stockwerk drang Musik, die Staubspur der Bauarbeiter führte sie schließlich zum Dachboden. Dort empfingen sie helles Sonnenlicht, zwei Polizisten in Uniform und zwei Arbeiter. Das Licht drang durch den geöffneten Teil des Dachs. Etwa ein Drittel des Speichers war leer geräumt, offenbar mit Hilfe des Krans, zwei Drittel quollen noch über von ausgedienten Möbeln, Kisten und allerlei Gerümpel.
Die Streifenpolizisten und die Arbeiter standen um ein Biedermeier-Tischchen mit drei intakten und einem abgebrochenen Bein, das mit einer Latte und Draht grob repariert worden war. Auf dem Tisch lag ein abgestoßenes, längliches Lederetui, rot genarbt mit zahllosen Flecken, und im Etui der Finger – leicht gekrümmt, die Haut gelblich braun und pergamenten, auf dem Nagel Spuren roten Lacks.
Die uniformierte Beamtin, eine Frau um die dreißig, grüßte Falk und nickte Schilling zu, ihr deutlich jüngerer Partner salutierte linkisch.
Falk betrachtete den Finger aus der Nähe.
„Sieht echt aus, was meinen Sie?“
Schilling ließ sich Zeit.
„Sehr echt“, sagte sie nach einer Weile. „Ich verständige die Spurensicherung.“
„Wo wurde er gefunden?“
„Unter diesem Schrank.“
Die Beamtin zeigte auf ein monströses, graues Möbel mit den Beschlägen eines mittelalterlichen Burgtors. Falk bückte sich und erkannte den Abdruck, den die Schatulle im Staub hinterlassen hatte. Er versuchte den Schrank zu öffnen, doch der Schlüssel fehlte.
„Stellen Sie bitte fest, wo die entsorgten Teile gelandet sind. Vielleicht finden wir ja noch mehr.“
Einer der Arbeiter mischte sich ein, ein sehniger Blondschopf mit unzähligen Lachfältchen um Augen und Mund.
„Deponie Süd, Stadlweg. Können Sie mir sagen, wie lange hier alles stillstehen soll, Chef?“
„Wer sind Sie?“
„Jimmy Kern, der Partieführer. Unser Boss bezahlt uns nicht fürs Nichtstun.“
Dazu lachte er und warf dabei einen interessierten Seitenblick auf Schilling, der Falk zu seiner eigenen Überraschung missfiel. Ein Draufgängertyp, dachte er, der rund um die Uhr sein Glück suchte. Einer, der gar nicht anders konnte als Sprüche klopfend und feixend durchs Leben zu gehen.
„Sie haben den Finger gefunden?“
„Gefunden nicht, aber ich hab‘ die Bullen gerufen. Die Polizei, meine ich.“
„Gut. So lange nicht alles geklärt ist, was hier oben geklärt werden kann, steht die Baustelle. Erst wenn ich sage ‚Weiter‘, bewegt sich wieder was.“
Der Partieführer lachte erneut.
„Schon gut, Chef. Nur kein Stress. Den Boss wird es nicht freuen.“
„Tut mir aufrichtig leid.“
Das entlockte dem Draufgänger wiederum ein breites Schmunzeln.
„Was kommt jetzt?“
„Jetzt holen Sie mir die anderen her.“
Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers wechselte schlagartig von fröhlich-verschmitzt zu tiefster Verständnislosigkeit.
„Welche anderen, Chef?“
„Sie wollen mir nicht weismachen, dass Ihre Partie auf so einer Baustelle aus zwei Mann besteht. Es sind mindestens sechs, wenn Sie auf dem Boden nachzählen.“
Tatsächlich zeichneten sich in der Staubschicht etliche frische Sohlenmuster unterschiedlicher Größe ab.
Jimmy lachte schon wieder.
„Sie sind ein echter Detektiv, Chef. Waren wohl bei den Pfadfindern. Na, ich hab‘ eh nicht gedacht, dass ich damit durchkomme.“
Er trat ohne zu zögern aus dem offenen Dach auf die Regenrinne, blickte in die Tiefe und ließ einen gellenden Pfiff los. Falk, der sich nicht so weit vorwagte, erkannte im Spiegelbild des gegenüberliegenden Schaufensters den auffallend blondköpfigen Mann von vorhin, der einen Arm hob.
Mit der Lautstärke eines Megaphons brüllte der Vorarbeiter: „Alle rauf!“
Der Mann unten hob nochmals die Hand und verschwand aus der Spiegelsicht des Chefinspektors.
„Schwarzarbeiter?“, fragte Falk.
„Jetzt nicht mehr“, grinste Kern. „Ich hab‘ dem Büro schon Bescheid gegeben, die erledigen das bei Bedarf sehr schnell.“
Kurz darauf vernahmen sie Stimmen und Schritte aus dem Treppenhaus.
„Die Leute sollen auf dem Gang warten“, wies Falk die Uniformierten an. „Den Dachboden überlassen wir der Spurensicherung.“
Er wandte sich an Schilling.
„Ich rede mit den Arbeitern, danach mit den Bewohnern. Sie horchen sich in der Nachbarschaft um. Beobachtungen, Gerüchte, Klatsch – alles, was man sich über das Haus erzählt und früher erzählt hat. In den kleinen Läden bleibt manches hängen.“
Schilling nickte und verschwand. Der Chefinspektor trat auf den Gang und sah sich einer Gruppe von Männern gegenüber, allesamt in kurzen Hosen, Ruderleibchen und festen Schuhen, die ihn gespannt betrachteten. Der Partieführer übernahm sofort den Job des Moderators.
„Das ist der Gelbe“, sagte Jimmy. „Er hat’s zuerst gesehen.“
Der Arbeiter, der zuvor gewunken hatte, kam auf ihn zu. Allen Männern sah man ihre Tätigkeit im Freien an, der Gelbe übertraf sie bei weitem. Seine Haut schimmerte wie dunkles Leder, die blauen Augen, weißlichen Brauen und das kurze Zitronenhaar machten ihn fast zu einer Kunstfigur, zu einem Clown. Er empfand das offenkundig nicht so, er strahlte eine ruhige Gelassenheit aus, die Falk fast körperlich spürte.
„Sie sind der Gelbe – und wie noch?“
„Dirk Karmann.“
„Sie haben das Etui unter dem Schrank gefunden?“
„Ich habe es gesehen, als ich ein paar Meter entfernt eine Kiste anhob. Slobo stand direkt daneben. Ich hab‘ ihm gesagt ‚Bück‘ dich und schau, was da liegt.‘ Das hat er getan. Wir haben das Etui aufgemacht und den Finger gesehen. Jimmy hat die Streife gerufen und uns weggeschickt, weil die Anmeldung noch nicht durch war.“
Für einen Kärntner Hilfsarbeiter sprach Karmann erstaunlich hochdeutsch – kein reines hochdeutsch, aber einen Dialekt, der nahe dran war und nur an der Oberfläche von der Mundart des Landes eingefärbt. Vor einigen Jahren wären Bauarbeiter vom großen Nachbarn im Norden hier im Süden Österreichs noch undenkbar gewesen, mittlerweile fiel es kaum auf.
„Er wollte, dass Sie und Ihre Kollegen unten warten?“
„Jimmy ist klug. Er hat gemeint, wenn wir Glück haben, können wir in einer Stunde weitermachen. Wenn aber die Bullen was von uns wollen, ist es besser, sie müssen nicht lange nach uns suchen.“
„Was haben Sie gedacht, als Sie die Schatulle öffneten?“
Der Blonde lächelte und entblößte dabei mehrere Zahnlücken in einem kräftigen, weißen Gebiss.
„Ich bin Hilfsarbeiter, Herr Chefinspektor. Ich denke nicht.“
„War der Behälter staubig?“
„Nicht besonders.“
„Wer hat ihn angefasst?“
„Slobo, ich, Jimmy – vielleicht noch andere, das weiß ich nicht.“
Ein junger Mann, deutlich kleiner als der Gelbe, mit wild wucherndem Bart und Haupthaar, nickte zustimmend bei jedem Satz seines Kumpels.
„Sind Sie Slobo?“, fragte Falk.
Der kleine Arbeiter trat von einem Fuß auf den anderen, sah rechts und links an ihm vorbei und gab ihm leise murmelnd recht.
„Mhm.“
„Slobo versteht nicht viel vom Reden“, vermittelte der Partieführer. „Aber keiner läuft so über die Dächer wie er, stimmt’s Slobo?“
„Mhm.“
„Haben Sie das Etui vorher schon einmal gesehen?“
Slobo schüttelte so heftig den Kopf, dass von seinem Gesicht unter dem fliegenden Haar gar nichts mehr zu erkennen blieb. Falk wandte sich an die anderen.
„Hat einer von Ihnen etwas zur Schatulle oder ihrem Inhalt zu sagen? Irgendeine Information dazu?“
Nun schüttelten alle stumm ihre Köpfe.
„Hat sie noch jemand angefasst?“
Wieder Kopfschütteln.
„Nennen Sie den Kollegen Name und Anschrift. Hier ist heute nichts mehr für Sie zu tun.“
Die Arbeiter machten ihre Angaben und verschwanden. Unterdessen kündigten langsame, schwere Schritte und halblaute Flüche die Spurensicherung an. Die Flüche stammten von Dr. Norobosco, dem Professor, der den kleinen Trupp anführte. Sein zerzauster, weißer Haarschopf erinnerte an Einstein, sein Temperament an Einsteins Bombe. Unter Kollegen galt er als Legende. Gewöhnliche Beamte befanden sich unter seiner Wahrnehmungsgrenze, mit Falk kam er gut aus – für seine Verhältnisse.
„Falk“, keuchte er. „Sie locken mich in einen Wolkenkratzer ohne Lift. Wollen Sie mich umbringen?“
„Ein vierstöckiger Wolkenkratzer, Professor, bringt Sie nicht um.“
„Ich bin rekonvaleszent, vergessen Sie das nicht. Wo ist der Finger?“
Der Chefinspektor führte den Forensiker zum Tischchen im Dachboden. Die anderen Leute der Spurensicherung folgten, ebenso die Streifenbeamten.
Der Professor betrachtete den Finger, nahm ihn in die Hand, roch daran und fragte:
„Hat einer von Ihnen damit in der Nase gebohrt?“
Der junge Uniformierte zuckte zusammen. Dr. Norobosco merkte es, steckte prompt seine Zunge heraus, tat, als ob er damit den Finger ableckte und schmatzte mit den Lippen wie bei einer Weinverkostung. Sein Standardscherz in Anwesenheit von Neulingen.
„Schmeckt nach nichts“, meinte er. „Noch mehr von der Frau gefunden?“
„Es ist ein Frauenfinger?“, fragte Falk.
„Sie sind doch nicht blind“, grollte der Wissenschaftler.
„Nicht, was den Nagellack betrifft. Aber den tragen hin und wieder auch Männer.“
„Männer … Dieser Finger gehörte einer Frau. Das ist also alles, was wir von ihr haben?“
„Bis jetzt.“
Norobosco packte Finger und Etui in ein Säckchen.
„Mörtl, kümmern Sie sich um den Dachboden. Ich gehe ins Labor.“
Ohne noch jemanden eines Blicks zu würdigen, stapfte der Professor hinaus auf den Gang, dem langen Abstieg entgegen. Niemand wusste übrigens, welcher Art Noroboscos Krankheit gewesen war und niemand – den Chef des LKA eingeschlossen – hätte gewagt, ihn danach zu fragen. Er hatte lediglich am Rande erwähnt, dass er sich einer längeren Behandlung unterziehen müsse und blieb danach für ein halbes Jahr wie vom Erdboden verschluckt. Eines Tages kehrte er in unverändert schlechter Laune zurück und alle atmeten auf.
Inspektor Mörtl teilte seine Leute ein, Falk zog sich auf den Gang zurück, zündete eine Zigarette an und rauchte in dem Eiltempo, das er sich angewöhnt hatte, seit die Rauchgelegenheiten immer rarer wurden. Er entsorgte den Stummel in seinem Taschenaschenbecher – einem Geschenk Mörtls, der es sich nicht hatte nehmen lassen, auf dem Deckel die Mahnung ‚Für Tatorte‘ eingravieren zu lassen. Der Chefinspektor hatte ihn so wortlos entgegen genommen wie er übergeben worden war.
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